Du bist nicht unfokussiert

Ich hatte die Tage eine Eingebung: Nach einem freien Abend, an dem ich nichts weiter gemacht habe, als in der Wohnung herum zu lümmeln hatte ich ein schlechtes Gewissen…“Voll die Verschwendete Zeit! Du hast dich von YouTube ablenken lassen! Die Zeit hättest du besser bzw. anders nutzen können. Vielmehr sollen!
Blablabla.

Ich hab dann meinen Kaffee getrunken. Beruhigt habe ich mich nicht.

Ich habe mich auf den Weg gemacht.

Beruhigungsspaziergang:
Auf dem ersten Teil laufe ich noch an großen Bürogebäuden und Industrieverwaltung vorbei.
Im Dämmerlicht wirkt es fast so, als lehnten sich die Gebäude zu mir herunter. Beinahe so, los würden sie mir das Licht nehmen und mich bedrohen.

Wir sind echt viel zu industrialisiert. Zu effizient. Zu maschinisiert.
Denn die Idee, eine Maschine möglichst immer produzieren zu lassen, färbt jetzt auch auf uns ab: Wenn man einen freien Tag hat und da nichts „Produktives“ macht, hat man ein schlechtes Gewissen. Ich kenne das von mir und von meinen Freunden.

Wo liegt denn das Problem?
Ich bin nicht fokussiert genug.
Ich bin faul.
Andere machen doch auch voll viel.
Und so weiter.

Mittlerweile stehe ich an einem See, schaue in die aufgehende Herbstsonne und überlege. Ein Eisvogel fliegt über das Wasser und ich muss grinsen: Im Sommer hab ich mich noch gefreut, weil ich diesen Volge selten sah. Seitdem ich weiß, wo er nistet, ist es ein wenig so, als würde man einen alten Bekannten im Café sehen: Man kennt sich, ohne je interagiert zu haben.

Ist es nicht völlig in Ordnung, einmal Pause zu machen?
Wartungszeiten werden bei Maschinen auch geplant und sind Teil des Kalküls. Einen freien Samstag zu „verschwenden“ kann die beste Verwendung der Zeit sein, die man hat. Spontan in die Stadt zu gehen, eine Freundin zu treffen und auf der Straße 20 Minuten zu plaudern – wer hat denn sonst Zeit für so etwas?!

Meine Runde führte mich mittlerweile unter einer Autobahn durch. Das Rauschen der Autos, die auch am Samstag mit 130km/h ihr Ziel anvisieren, erinnert mich daran, dass das schlechte Gewissen vielleicht vom Vergleichen kommt.
Wir vergleichen unseren freien Abend, die Wartungszeit, mit der Zeit der höchsten Aktivität von Anderen.
Man sieht mehr Insta-Stories von Action und Aktivitäten als vom ruhigen Ausspannen auf dem Sofa, oder nicht?
Meine 4km/h Spaziertempo gegen 130km/h der Autos. Unfairer Vergleich, klarer Gewinner – oder?

Der Rückwerg macht mir jedoch eines klar:
Es muss eben ein Ziel geben. Jede der Maschinen, die in den Gebäuden stehen und auch jedes der Autos, die ich vorhin gehört habe hat ein Ziel.
Wieso dann also das schlechte Gewissen? Wenn es kein Ziel für die freie Zeit gibt, wieso soll dann eine Beschäftigung besser sein als eine Andere? Man ist nicht abgelenkt, wenn es nichts gibt, von dem man abgelenkt wird. Man ist nicht fokussiert, wenn es nichts zum fokussieren gibt. Kein Pfeil wird verschossen, wenn nirgends eine Zielscheibe steht. Dann kann man auch „einfach mal gucken“.
Mittlerweile wärmt die Sonne meinen Rücken. Vorhin war mir noch kalt, jetzt ist mir zu warm. Es ist beinahe so, als würde ich für diese Einsicht belohnt werden.

Endlich bin ich wieder zuhause.
Tür auf, Tür zu.
Schuhe aus.
Ich freue mich auf den zweiten Kaffee.

Der Plan für Heute:
Heute mache ich frei. Ohne schlechtes Gewissen. Schließlich habe ich kein Ziel. Ganz entspannt.

Cheers.

„Könntest du mir bitte sagen, welchen Weg ich von hier aus nehmen soll?“ 

„Das kommt ganz darauf an, wohin du gehen willst“, sagte die Katze.

„Wohin ist mir ziemlich egal‘, sagte Alice. 

„Dann ist es auch egal, welchen Weg du nimmst'“, sagte die Katze.

Alice im Wunderland

4 Antworten auf „Du bist nicht unfokussiert“

Hatte im Studium oft Situationen, in denen ich mich selbst überzeugen musste, dass es okay ist, mal ohne schlechtes Gewissen nichts zu machen. Irgendwas konnte man immer weiter lernen. Die Stunden für meinen Nebenjob wollte ich Anfang der Woche als erstes fertig machen, schließlich guckt da am Ende des Montags jemand drauf. Aber wenn ich fertig war gab es da ja auch wieder die Möglichkeit vorzuarbeiten, damit man diese Zeit irgendwann abbummeln kann. Also der nächste Funken, der das schlechte Gewissen entfachen kann.
Bin jetzt endlich da angekommen, wo ich hin wollte: Vollzeit Job und wenn abends Feierabend ist, dann ist Feierabend. Kein schlechtes Gewissen, da mach ich, worauf ich Lust habe – Buch lesen, Zeit auf Instagram verschwenden, Kochen, Sport machen, aufm Sofa liegen und nix tun – vollkommen egal, denn die Arbeit geht erst morgen früh weiter.😊

Also sich immer wieder selbst eingestehen: erholsame Pausen muss man sich einfach gönnen – und erholsam ist es nicht, eine Stunde lang von seinem Gewissen gequält zu werden – danach kann man viel fokussierter und kreativer Produktiv sein. 😊

Du hast völlig Recht!
Pausen gehören dazu und man muss sie sich einfach nehmen – Es gibt ohnehin Arbeit ohne Ende.
Wenn man das nicht anpassen kann, muss man eben die Pausen und das Tempo selbst bestimmen

Voll Gut, dass du „deinen Platz“ gefunden hast 😊

Ich habe diese „du bist nicht fokussiert genug“ Gedanken ungefähr 3mal pro Woche 😅
Uns wurde irgendwie „beigebracht“, unser Leben mit dem Leben der anderen zu vergleichen, und falls wir feststellen, dass Herr Soundso einen echt produktiven Tag hatte, während wir „nix“ taten… BOOM, Gewissensbisse!
Eine Pause ist ab und zu sogar notwendig für unsere psychische und/oder körperliche Gesundheit, was leider wegen des Lebenrythmus nicht immer möglich ist.
„Nix tun“ bedeutet sehr oft „mehr tun“ 🙂

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